Die Ideen für dieses Projekt fußen einerseits auf die im Dokumentationszentrum gezeigten Ausstellungen, die Aufbereitung des ehemaligen Lagers (insbesondere der Baracke 13) zu einem Gedenkort und das dort von den Historikern angesammelte Wissen über NS-Zwangsarbeit, sowie andererseits auf dem autobiografischen Roman François Cavannas, der unter dem Titel “Les Russkoffs” (deutsch: “Das Lied der Baba”) 1979 erschien und auf sehr persönliche Art über Cavannas Erlebnisse im 2. Weltkrieg und insbesondere über seine Zeit in einem Berliner Zwangsarbeiterlager erzählt.
Wir wollen mit dem gemeinsamen Projekt nicht nur die Geschichte des Zwangsarbeiters und späteren Gründers der Satirezeitschrift Charlie Hebdo erzählen, sondern auch ein Bild der Lebensumstände von Arbeitssklaven zeichnen, die man zwingt, Waffen zu produzieren, die gegen die eigenen Landsleute gerichtet werden. Wir wollen untersuchen, was passiert, wenn wir mit einem Stoff an einen historischen Ort zurückkehren.
Wenn ein Deutscher sagt „Die Lastwagen sind da“, dann sind sie da. Wir quetschen uns rein, wir fahren, in einer Sandwolke, wieder los. Unterwegs bewundre ich den schönen, funkelnagelneuen, drei Meter hohen Drahtzaun mit obendrauf vier Lagen Stacheldraht, der gemeinerweise in die falsche Richtung gebogen ist, um einem eventuellen Klettermaxe die Suppe zu versalzen. Man wird auf dem Karree des Sklavenmarkts nicht lange rumstehen müssen. Ein Käufer ist schnell gefunden.
Mama, hast du deinen Jungen großgezogen, dich für ihn abgerackert bis zum Geht-nicht-mehr, nur damit man ihn mit zwanzig verkauft wie die Hühner auf dem Markt, im Dutzend, Kopf nach unten, mit zusammengebundenen Füßen? Was sagst du dazu?
„Lôss, lôss, Mensch, lôss!“
Wir sind da. Sand, Holzbaracken, blaugestrichne Lampen. „Lôss, lôss! Beeilung bitte, nicht wahr, ja? Zu nachtschlafender Zeit hier ankommen, nicht mal schlafen lassen sie einen hier, ja?“ Ein Belgier. Immer ist ein Belgier da.
Total Mattscheibe, folge ich der Herde. Sand. Immer Sand. Hunde kläffen sich die Kehle aus dem Leib, ganz nahe . . . Hunde? O Scheiße!
„Hier!“
„Da? Gut.“
Das also ist meine Stube. Zehn zweistöckige Holzbetten, als Matratzen Bretter zum Durchgucken, auf jedem Brett eine zusammengefaltete Decke und eine Art großer Kartoffelsack, aus Papierstrippe gehäkelt, la Kehr groß Malehr. Leer der Sack. Der Belgier erzählt uns, das sei unsre Matratze, und morgen werde man Papierschnitzel zum Reinstopfen verteilen, das sei sehr komfortabel, nur ein bißchen laut beim Umdrehen, aber daran gewöhne man sich. Schon gut, schon gut.
Die Zwischenräume zwischen den Betten sind winzig. Der Mittelgang ist gut ein Meter fünfzig breit, er ist blockiert von einem Tisch mit zwei Bänken an den Seiten, einem runden gußeisernen Ofen und einer Kiste Briketts, einer komischen Kohle, die aussieht wie gepreßte und getrocknete Kuhfladen.
„Diesör. Diesör. Und diesör da.“
Einer von den dreien bin ich. Der Belgier erklärt:
„Ihr drei hier kommt in Abteilung sechsundvierzig.“
Na sowas . . . Wo man gerade auf den Sandmann wartete. Ich frage vom Grunde meines Komas herauf trotzdem:
„Ach ja? Und warum?“
„Weil ihr groß und stark seid. Man braucht da stramme Burschen, weißt du, auf der Sechsundvierzig.“
Ich höre aus seiner Stimmen sowas wie Verlegenheit heraus, als er hinzufügt:
„Die machen dreimal acht, auf der Sechsundvierzig. Die Presse, die kann man nämlich nicht anhalten, ja?“
Und immer verlegener:
„Das heißt, daß ihr eine Woche vormittags, eine Woche nachmittags und eine Woche nachts Schicht habt.“
Oje . . .! Das wird ein Leben! Mama, warum hast du mich bloß so groß und stark gemacht!
Jetzt sitzt er doch wahrhaftig in der Patsche, der Belgier:
„Und ihr drei hier, ja? Ihr habt nun leider gerade diese Woche Nachtschicht. In einer halben Stunde löst ihr die andern ab.“
Um den Schlag zu versüßen, vertraut er mir an:
„Auf der Dreiundvierzig machen sie zweimal zwölf.“
*
Und so kam es, daß ich mich vor dieser Presse wiederfand, mit Anna zur Linken und Maria zur Rechten.
Maria . . .
Und so hat man mich da reingeschmissen, in diesen riesigen Glockensturz aus Krach und Dampf, in diesen Gestank verbrannten Bakelits, in diese gelbe Suppe, wo man keine drei Meter weit sehen kann. Hat mich vor dieses Ungetüm aus schwarzem Eisen und funkelndem Stahl gepappt, hat mir gesagt: „Du tust, was diese Frauen hier dir vormachen, nicht wahr, ja? Heute lernst du noch, darfst dich auch mal verhauen, aber nutz das bloß nicht aus, bestimmt nicht, ja?“
Also . . . Ich hatte geglaubt, ich spreche deutsch, dabei sprech ich russisch!
Ich hatte Maria für eine Deutsche gehalten – das heißt, ich hatte gar nicht daran gedacht –, dabei ist sie Russin! Ukrainerin, genau genommen (Die Ukraine? Was ist das, die Ukraine? Schulerinnerungen: irgendein Name in der hoffnungslosen, hellgrünen Unermeßlichkeit, die zwei Seiten in meinem Atlas bedeckte, und quer darüber „UdSSR“, mit zehn Zentimetern Zwischenraum zwischen jedem Buchstaben . . .). Anna auch, und all die anderen Mädchen. Dörferweise deportiert. Wie Vieh behandelt! Dagegen geht’s uns ja noch gold.
So ist das also. Haben die doch diesen ganzen Scheißkrieg nur angefangen, damit wir uns finden. Maria und ich.
All die Toten, all die Flüchtlingszüge, all die Bombardierungen, die Ultimaten, die gebrochenen Verträge, die schönen versenkten Schiffe, all die eisernen Straßen und Maginot-Linien, die ausradierten Städte und die herbeigeflehten Waffenstillstände, die ausgerissenen Augen, die aufgerissenen Bäuche, all die umgebrachten Kinder, umgebracht an ihren umgebrachten Müttern, die Triumphzüge, die Siegesfeiern, die Blumenkränze für die unbekannten Soldaten, all das militärische Schaugepränge, all das, diese ganze Scheiße, nur damit Maria und ich, jeder von seinem Ende der Welt, aufeinander zukommen, sich auf halbem Weg begegnen, vor dieser beschissenen Maschine, und daß wir uns finden, Maria und ich, und daß wir uns erkennen, Maria und ich, Maria und ich.
Vielleicht, daß wir beide in gleicher Weise füreinander offen waren, gleich ausgehungert nacheinander, auf gleiche Art verlorene Kinder, gleich wild wie Jäger einer für den anderen? Und auch auf gleiche Art erbebend? Wir haben’s gleich gewußt.
Porträt Maria: Neunzehn Jahre. Lockenschopf. Blond. Blond, wie sie blond sind: dunkelblond mit rötlichen Tupfern, eher fahlrot als blond, löwenblond. Wie groß? Es langt. Sehr weiße Haut, hohe Backenknochen, weit auseinanderstehend, feingliedrig, zarter Knochenbau. Gut, schön ja, Worte, weiter nichts. Was ich hier beschreibe, ist ein neunzehnjähriges Mädchen, slawisch bis auf die Knochen, schön wie die Liebe, ein Mädchen eben. Aber nicht Maria.
Wie soll ich es mit dürren Worten schaffen, daß dir Maria aus dem Papier entgegenspringt? Wie soll ich’s machen? . . .
Ich wollte Maria Französisch beibringen. Da ich die Methode Assimil kannte, hab ich mir so eine ähnliche Methode zum Französischlernen für Russen zurechtgebastelt, aber lediglich mit Comics. Ich zeichne sehr schnell. Das fing etwa so an: Ein Typ zeigt mit dem Finger auf sich und sagt: Je suis Jean.“ Dann zeigt er auf den Tisch und sagt „Ceci est la table“ . . . Ich habe alles in Lautschrift nach dem kyrillischen Alphabet geschrieben. Ich hab Maria die erste Lektion nachsprechen lassen und sie ihr für den nächsten Tag zum Vorlesen aufgegeben. Am nächsten Tag hat sie nach fünf Minuten den Kram hingeschmissen. Sie hat sich gekugelt vor Lachen und mir erklärt, sie wär zu dumm dazu, und ihr würde das beim einen Ohr hinein- und beim andern hinausgehn. „Ras sjudá, ras tjudá.“ Na, ich kam mir vor wie ein ekelhafter alter Pauker mit Bart, und da hab ich es denn sein lassen.
Am Sonntag wird nicht gearbeitet. Bis auf die Jungens von der Dreimal-Acht oder der Zwölf-Zwölf natürlich. Das ist ein Ding, das haut mich um. Daß die wildentschlossenen Nazis die Rüstungsproduktion für einen Tag in der Woche aussetzen, auf die Gefahr hin, den Krieg zu verlieren, und genau das sind sie drauf und dran! Wohl doch nicht etwa aus Ehrfurcht vor dem Tag des Herrn? Auch nicht aus Wohlwollen gegenüber dem Arbeiter? Wie dem auch sei, so ist es nun mal: am Sonntag nix Arbeit.
Wir sind acht. Manchmal zehn, manchmal zwölf. Heute acht. Die vier andern hat man wohl in einen andern Stadtteil geschickt, heut nacht ist einiges heruntergekommen. Acht Straffällige, acht Bockbeinige. Acht „Saboteure“. Eine feine Mannschaft. Das Räumkommando.
Jeden Morgen um fünf müssen wir uns vor der Baracke des Lagerführers zum Appell versammeln; unserm kleinen Sonderappell, ganz für uns allein – Gesindel, das wir sind.
Der Lagerführer hat schlechte Laune. Unsretwegen muß er in aller Herrgottsfrühe aufstehn. Er hat nicht viel geschlafen. Drei Alarme, zwei davon schwer. Jedesmal, wenn die Sirene heult, muß er mit seinen Schergen und seinen Hunden die Baracken abklappern, muß Bett für Bett nachgucken, daß auch ja kein einziger, mistiger, lästiger, wurstiger Scheißfranzose weiterpennt oder sich dünne macht, auf die Gefahr hin, zum Ragout aus eigenen Eingeweiden mit Vier-Tonnen-Bombensplittern zermanscht zu werden, anstatt in den lächerlichen, aber vorschriftsmäßigen Graben zu klettern. Neulich nachts wäre Marcel Piat um ein Haar bei lebendigem Leibe aufgefressen worden; er hatte sich im Wandschrank verkrochen, der Idiot, und hatte nicht an die Köter gedacht.
Mein alter Überzieher aus Paris wird in der Taille von einer Schnur zusammengehalten, damit die Ostseewinde, die mir die Beine hochwehen, mir nicht allzu heftig in den Bauch beißen. Die Schnur zieht sich durch den Henkel des eisernen Emailletopfs – Fassungsvermögen ein halber Liter –, den man immer bei sich haben sollte, man kann nie wissen, es wäre doch zu dumm, sich eine unverhoffte Suppe oder einen Schluck brühheißen Kaffee entgehen zu lassen, nur weil man kein Gefäß dabei hat. Aus demselben Grunde ruht auch mein Löffel tief und fest in meiner Tasche, immer bereit, herauszuflitzen. Niemals sich von seinem Löffel trennen!
Ich hab Berlin in Schutt und Asche fallen sehen, Nacht für Nacht, Nacht für Nacht. Tag für Tag, als die Amerikaner die Sache in die Hand nahmen. Dreitausend Fliegende Festungen lassen am hellichten Tag auf einen Schlag ihre Bomben runter, alles, was sie haben, alle zusammen, auf Kommando. „Bombenteppich“ nennt sich das. Kommt her und hört euch so einen Bombenteppich einmal an, nur ein einziges Mal, von UNTEN, und dann reden wir von den Idioten, die euch einreden, daß man kämpfen muß – leider, leider –, das sei zwar traurig, aber man habe ja keine Wahl, – wo doch die gleichen Mistböcke oder ihre Vettern in aller Gemütsruhe die Bestie haben groß werden lassen, ihre großen Reden, was sie alles machen wird, mitangehört haben, zugesehn, wie sie die große Schlächterei vorbereitet hat, ihr dabei geholfen, sie dazu noch angetrieben haben . . . Scheiße, wo gerate ich da hin? Wie viele haben schon vor mir den Krieg ausgespien, weil sie ihn am eigenen Leibe verspürt haben, wie viele Barbusses, wieviel Rilkes? . . . Und was hat das geändert?
In jeder noch so kleinen Lücke der Riesenstadt hatten sich Fluchten brauner, teerpappegedeckter Fichtenholzquadern eingenistet. Groß-Berlin, das heißt Berlin mit seinen Außenbezirken, bildet ein einziges Lager, ein meilenweites Lager, das sich zwischen den festen Bauten, den Denkmälern, den Bürohäusern, den Bahnhöfen, den Fabriken hinkrümelt.
Hoch droben im S-Bahn-Wagen überfliegst du ein Lager nach dem andern. Von dort oben sehn sie alle gleich aus, auf triste Art und Weise gleich. Leichte, schnell abzubauende, in Serie gefertigte Baracken, nach „Blocks“ aufgeteilt, Schlackenwege, hohe Bretterzäune, obendrauf ringsherum Stacheldraht, zwei weißgestrichene Baracken rechts und links vom Eingang: die des Lagerführers und die Krankenstube. Mitunter blüht am Eingang dieses oder jenes Lagers unverhofft ein Tulpenbeet, ein Stiefmütterchen- oder ein Geranienbeet. Das bedeutet, daß man hier das Rote Kreuz erwartet. Das Schweizer Rote Kreuz, das Internationale Rote Kreuz, die anderen Roten Kreuze entsenden eifrig von Zeit zu Zeit Abordnungen in die Lager, um nachzusehn, ob die Kriegsgefangenen, die Fremdarbeiter oder die von der S.T.O. human behandelt werden; wie es scheint, gibt es dafür internationale Regelungen, Kriegsrecht, Genf, Den Haag und alles. Wenn man die Russinnen vom Lagerkommando an der Lagereinfahrt Blumenstecklinge einpflanzen sieht, dann flachst man: „Ach, Natascha, morgen kommt wohl das Rote Kreuz?“ Natascha lacht sich krank.